Geschichten verstehen: Konzeption, Implementation und Evaluation eines Lesestrategiesets für narrative Texte
Schlagworte:
Narratologie, Textverstehen, Literarisches lernen, Lesestrategien, Vorstellungsbildung, Story grammar, LeseverstehensstrategienÜber dieses Buch
Wie narrative Texte lesend verstanden werden, welche Prozesse daran beteiligt sind und wie Schüler*innen in ihrem Verstehen unterstützt werden können – all dies sind genuine Forschungsfragen der Lese- und Literaturdidaktik, mit denen sich auch die Studie Geschichten verstehen beschäftigt. Ihr Fokus liegt auf dem zu erlesenden Geschehen, dem Was des Erzählens. Das Verstehen der histoire, die (Re-)Konstruktion der Handlung, so die erste Annahme, ist ein zentrales Moment des Verstehens narrativer Texte, das unterstützt werden kann durch die explizite Vermittlung eines Geschichtenschemas. Die darin erfasste Dynamik des Figurenhandelns zwischen Anfangsimpuls und Erreichen oder Verfehlen des Handlungsziels wird ergänzt durch eine statische Komponente, die Deskription. Denn Erzähltexte sind nicht ausschließlich narrativ. Zum Erzählen gehört auch der deskriptive Modus, die Beschreibung einer dargestellten Welt, in der die Handlung situiert ist. Bei der Rezeption werden dynamische und statische Vorstellungsbilder evoziert, mentale Bilder, welche die Bedeutungskonstruktion unterstützen. Lesenden, die beim Lesen reichhaltige Vorstellungen von der erzählten Welt entwickeln, fällt es leichter, mentale Modelle zu einer Geschichte aufzubauen – so die zweite Annahme. Beide Annahmen werden gestützt durch kognitionspsychologische Modellierungen von Leseverstehen: Das Geschichtenschema fungiert als narrative Superstruktur und somit als steuerndes Element bei der makrostrategischen Erschließung von komplexen Erzähltexten. Die Generierung mentaler Bilder unterstützt die Bildung von Inferenzen, die Integration von Weltwissen und die Elaboration der Textwelten.
Diese beiden Facetten des Verstehens narrativer Texte werden in der Studie Geschichten verstehen als Leseverstehensstrategien modelliert. Als organisierende Strategie dient ein auf dem Geschichtenschema basierendes Set aus Lesetechniken, das Prozesse der Konstruktion von Makropropositionen unterstützt. Die Generierung mentaler Bilder wird als Elaborationsstrategie gefasst. Zur Vermittlung der beiden Strategieausprägungen wird eine forschungsbasierte Unterrichtsreihe für den Deutschunterricht in der sechsten Klassenstufe konzipiert. Die Schüler*innen lernen mithilfe von Storyelementen, narrative Texte zu strukturieren, zentrale Informationen zu identifizieren und die Handlung zu rekonstruieren. Mit der Strategie Kopfkino erlernen auch diejenigen Schüler*innen mentales Visualisieren beim Lesen, denen die Generierung mentaler Bilder schwerfällt.
Das Programm Geschichten verstehen wird in den regulären Deutschunterricht implementiert und besteht sowohl in der formativen Vorstudie mit N = 108 Schüler*innen als auch in der Hauptstudie mit N = 497 Schüler*innen den Praxistest. In einem komplexen Prä-Post-Follow-up-Design mit verschiedenen Kontrollgruppen und Matchingverfahren (Prätest-Matching, Propensity-Score-Matching) wird überprüft, ob sich durch den beschrieben Input eine signifikante Verbesserung der Leseverständnisleistung einstellt. Zudem wird die Implementationstauglichkeit des Programms evaluiert. Die Auswertung der Daten führt zu folgenden Ergebnissen:
- Die statistischen Analysen zeigen unterrichtsrelevante Fördereffekte (Effektstärke d = 0.54) auf das Leseverständnis, vor allem bei schwächeren Leser*innen. Unmittelbar sowie langfristig profitierten 82 % der Schüler*innen von dem Strategietraining Geschichten verstehen. Zudem kann aufgrund der Aussagen der Lehrkräfte ein positiver Einfluss des Programms auf andere Ebenen der Lesekompetenz neben dem Leseverständnis angenommen werden.
- Das Strategieprogramm Geschichten verstehen kann in den regulären Deutschunterricht implementiert werden.
- Der Aufbau des Trainings sowie die Materialien und Texte sind dem Niveau der Schüler*innen der sechsten Klassenstufe angemessen und durch quantitative und qualitative Differenzierung auf allen Leistungsstufen verwendbar.
Aufgrund der positiven Ergebnisse hinsichtlich seiner Implementationstauglichkeit, Praktikabilität und Wirksamkeit kann die schulische Anwendung des Strategiesets aus didaktischer Sicht für alle Schulstufen nachdrücklich empfohlen werden.
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