Anschluss- und Begleitkommunikationen zu literarischen Texten
Synopsis
Sprachliche und kommunikative Kompetenz ist, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten, eines von vielen Lernzielen für Lernende in allen Bildungseinrichtungen von der Kindertageseinrichtung bis zur Universität. Gefordert wird unter anderem die Produktion von komplexen Diskurseinheiten auf bildungssprachlichem Niveau. Bildungssprache soll in diesem Zusammenhang als ein detaillierter, kontextentbundener verständlicher sowie begrifflich präziser (Morek und Heller 2012, S. 68). Sprachgebrauch mit dem übergeordneten Merkmal der Explizitheit (Feilke 2012) verstanden werden. Das Sprechen kann dabei unter anderem als Werkzeug der Wissensvermittlung (kommunikativ) und des Denkens (epistemisch) fungieren (Morek und Heller 2012).
Wie bildungssprachliche Fähigkeiten vermittelt werden können, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt (Feilke 2012). Hinzu kommt, dass sich zumindest bezüglich des mündlichen Sprachgebrauchs in Lehr- und Lernkontexten häufig wenig Gelegenheit zum Einüben längerer Redebeiträge bietet.
Die Kommunikation über Texte erscheint hierfür schon aufgrund der Annahme geeignet, dass Texte eigentlich erst während der Rezeption von den Rezipient*innen konstruiert werden. Wir gehen mit Hausendorf et al. 2017 davon aus, dass Texte Lesbarkeitshinweise bereitstellen, die von den Rezipient*innen zur Konstruktion ihrer eigenen mentalen Modelle genutzt werden. Diese können als Ausgangspunkt für Gespräche mit längeren Redebeiträgen (epistemische Funktion) verwendet werden, in denen Bedeutungen immer wieder ausgehandelt werden (kommunikative Funktion). Solche Aushandlungen sind zwangsläufig kontextentbunden und fordern auch einen gewissen Grad an sprachlicher Explizitheit.
Eine Möglichkeit ist die Verwendung literarischer Texte als Gesprächsanlass. Im Sinne eines erweiterten Textbegriffs (vgl. Staiger 2007) sollen darunter Texte in allen Medien verstanden werden, wie z. B. Bilderbücher, Computerspiele, Comics, Gedichte oder Filme. Die Offenheit literarischer Texte ermöglicht es, dass sie auf stets variierende Art interpretiert und verstanden werden können (vgl. Charlton und Sutter 2007). Dies entlastet die Interaktant*innen davon, eine „richtige Antwort“ geben zu müssen. In Anschluss- oder Begleitkommunikationen wie z.B. in Vorlesegesprächen (vgl. u.a. Wieler 1997, Spinner 2004, Gressnich et al. 2015) sind unterschiedliche Sichtweisen auf die Texte sogar ein erwünschter Effekt, der es auch Rezipient*innen mit sehr unterschiedlichen Wissensständen ermöglicht, sich über die Texte auszutauschen. Außerdem können die am Gespräch Teilnehmenden insofern voneinander lernen, als dass sie die unterschiedlichen Sichtweisen auf den Text nachvollziehen. Auch von der eigenen Deutung abweichende Äußerungen bergen ein großes Potenzial, weil sie dazu veranlassen, die eigene Haltung zum Text zu reflektieren, sie argumentierend zu verteidigen oder zu modifizieren (vgl. u.a. Spinner 2010, Preußer 2017, Heizmann 2019).
Im vorliegenden Sammelband werden in elf Beiträgen unterschiedliche Perspektiven und verschiedene Erhebungs- und Auswertungskontexte, unter denen Gespräche über literarische Texte aktuell betrachtet werden, vorgestellt.
Charlton, Michael; Sutter, Tilmann (2007): Lese-Kommunikation. Mediensozialisation in Gesprächen über mehrdeutige Texte. Bielefeld: transcript (Kultur- und Medientheorie).
Gressnich, Eva / Müller, Claudia / Stark, Linda (Hrsg.) (2015): Lernen durch Vorlesen. Sprach- und Literaturerwerb in Familie. Kindergarten und Schule. Tübingen, Narr Francke Attempto, 2015.
Heizmann, Felix (2018): Literarische Lernprozesse in der Grundschule. Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zu den Praktiken und Orientierungen von Kindern in Literarischen Unterrichtsgesprächen über ästhetisch anspruchsvolle Literatur. Baltmannsweiler, Schneider Verlag Hohengehren.
Feilke, Helmuth (2012): Bildungssprachliche Kompetenzen fördern und entwickeln: na.
Morek, Miriam; Heller, Vivien (2012): Bildungssprache‒Kommunikative, epistemische, soziale und interaktive Aspekte ihres Gebrauchs. In: ZFAL Zeitschrift für Angewandte Linguistik, S. 67–101.
Preußer, Ulrike (2017): „Boah, geil - ist das ab 18?“ Aspekte literarischen Lernens im Vorlesegespräch am Beispiel des Bilderbuchs Der kleine Fischer Tong, In: Dietz, Florian/Wind, Gerd-Peter (Hrsg.): Zwischen Büchern und Bildschirmen. Lesen und Schreiben in verschiedenen Medien. Herzogenrath, DGLS, S. 95–115.
Staiger, Michael (2007): Medienbegriffe, Mediendiskurse, Medienkonzepte. Baltmannsweiler, Schneider Verlag Hohengehren, S. 103.
Spinner, Kaspar H. (2004): Gesprächseinlagen beim Vorlesen. In: Härle, Gerhard / Steinbrenner, Marcus (Hrsg.): Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht, Baltmannsweiler, Schneider Verlag Hohengehren 2004, S. 291–307.
Spinner, Kaspar H.:(2010): Literaturunterricht in allen Schulstufen und –formen. Gemeinsamkeiten und Besonderheiten. In: Rösch, Heidi (Hrsg.): Literarische Bildung im kompetenzorientierten Deutschunterricht. Stuttgart, Fillibach bei Klett, S. 93–112.Wieler, Petra (1997): Vorlesen in der Familie. Fallstudien zur literarisch-kulturellen Sozialisation von Vierjährigen in der Familie. Weinheim et al., Juventa.
Beate Lingnau, Ulrike Preußer (Universität Bielefeld)
Chapters
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Inhaltsverzeichnis
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Sprachliches und literarisches Lernen in verschiedenen GesprächsformenEine Einleitung
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Bilderbuchgespräche mit Vorschulkindern: Wahrnehmen und Bewerten von Bildern und vorgelesenem Text
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hallo kleiner BÄR – Real-fiktive Gespräche zwischen Kindern und den Figuren aus textlosen Bilderbüchern und ihr Potenzial für die Anbahnung literarischer Fähigkeiten im Vorschulalter
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Sprachbildung und literarisches Lernen in der Grundschule am Beispiel von Textgesprächen. Eine Spurensuche
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Vorlesegespräche und andere Rezeptionsweisen in der Begegnung mit fiktionalen Geschichten (auch) als Erwerb schriftsprachlicher Textualität
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Das weiß ich von jener HexePeerinteraktive Bedeutungsaushandlung im Vorlesegespräch
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Die Methode storytelling und mögliche Potenziale für die Deutschdidaktik
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Diskursive Praktiken der Verständigung über TextverstehenAnforderungen und Lernpotenziale von Anschlusskommunikation über literarische Texte im Deutschunterricht
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„Das ist doof. Das ist halt Fremdgehen. Und das will man einfach nicht.“ Bedeutungskonstruktionen von Schüler*innen bei der Rezeption literarischer Texte und Implikationen für Gespräche über Literatur im (inklusiven) Deutschunterricht
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Literarisches Sprechen im Literarischen GesprächInteraktionen an den Grenzen zwischen mündlichem und schriftlichem Register
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Sei präzise diffus: Vague Language und Praktiken des Hedging beim literarischen Lernen im Deutschunterricht
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Interaktive Aushandlung der Rezeption von Serienfiguren unter Schüler*innen
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